ZWISCHEN REALITY SOAP UND DOKUMENTARFILM: WIRKLICHKEIT ALS PRODUKT?

Unter dem Stichwort 'Medienkultur' werden weniger optimistische Zukunftsszenarien entworfen, als dass damit zahllose Phänomene der Zerstreuung soziokultureller Ordnungen umschrieben werden: die Entfremdung angesichts immer näher an die Wahrnehmung wie den Körper heranreichender Medienoberflächen und -techniken; das Diffundieren verbindlicher kultureller Horizonte in beschleunigte Schnittstellen massenmedialer Infotainment-Szenarien; die Formung flexibler Subjekte, die vor allem dann arbeiten sollen, wenn die Tarife billig und Rechenzeiten frei sind; schliesslich das Verschwinden von Wirklichkeit hinter immer mehr Schichten medialen Zugriffs auf Umwelten. Geradezu als Gegenbewegung zu diesen technologisch/medialen Kontrollstrategien von Kultur zeichnet sich parallel dazu ein geradezu unerbittlicher und gnadenloser Drang nach Realität und Selbsterfahrung ab: Wer bin ich, wenn das Fernsehen ausgeschaltet, mein Mobiltelefon abgemeldet und mein Computer offline ist? Jogging, Wellness-Wochenenden, Abenteuerurlaube und ein wenig Zeit mit der Familie sollen uns sozusagen direkt stimulieren und uns mit einer Wirklichkeit sensorisch und emotional 'verschalten', die uns unter Medienverhältnissen immer mehr zu entschwinden droht (zumindest sind dort die Objekte unserer Emotionen keine 'wirklichen' Menschen oder 'wirkliche' Begebenheiten). Bloss: von welcher Wirklichkeit sprechen wir überhaupt? Wie könnten wir uns über solche Wirklichkeiten kulturell verständigen, wenn nicht über Mediensysteme (ein Begriff, denn man nicht rein technisch missverstehen darf). Welche Radikalisierung im Rahmen dieser Verständigung verursachen technische Massenmedien? Wird das 'eigene' Leben zur 'Docu Soap'? Das Privatleben zur Simulation von Serien à la 'Reich und Schön', 'Marienhof' oder 'Verbotene Liebe'? Können dokumentarische Strategien in Film und Video dieser vollständigen Ankoppelung an mediale Inszenierungen etwas entgegenhalten? Ist die Wirklichkeit etwas, dass sich durch elaborierte, selbstreflektive Medienstrategien zum Vorschein bringen lässt? Oder muss man gerade auch solchen Strategien zum Vorwurf machen, Medientechniken als Erkenntnisinstrumente im Zentrum der Kultur zu befestigen und 'Realität' als Warenform zu kultivieren?
Diesen und andere brisanten, notwendigen, redundanten und mitunter auch aktuell-langweiligen Fragen widmet sich der Vortrag, der sich in die Intervalle zwischen Videobeispielen vom 'wirklichen' Leben zwängt und sich im Wesentlichen parasitär zur Faszination der Simulation des Authentischen verhält. As Seen on TV!
Dank an: dogfilm, Berlin; Ulli Kremeier, plattform, Berlin.
Besonderer Dank an Andreas Knobloch.

REINHARD BRAUN geboren 1964
zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge, Forschungsaufträge zur Fotografie- und Mediengeschichte wie -theorie; projektorientierte Zusammenarbeit mit Künstlern im Bereich Medien; freier Autor und Kurator; 1999 Gründungsmitglied von "MiDiHy Productions" http://midihy.mur.at; 1999/2000 Gastkurator am Forum Stadtpark Graz; lebt in Graz.
Projekte, zuletzt:
2000 "channel hopping", Grazer Kunstverein, Graz; 1999 "Giving the Self a Home", Forum Stadtpark, Graz, Veröffentlichungen, zuletzt: "Its only TV, isn't it?", in: infection manifesto Nr. 4/2000; "Re-Cycling, Re-Formating, Re-Morphing, Re-Sampling,... ", in: Büro für Intermedialen Kommunikationstransfer (Hg.), copy & paste. drag & drop, Innsbruck 2000; "Video, Fernsehen, Telekommunikation - Die frühen Projekte", in: Sabine Breitwieser (Hg.), Re-Play. Anfänge internationaler Medienkunst in Österreich, Generali Foundation, Wien 2000.