'AIDE MÉMOIRE'- ein schwules Gedächtnisprotokoll
von Michael Brynntrup
BRD 1995, 16 min
'STJÅLNE BLIKKE' (Stolen Glimpses)
von Knud Vesterskov
DK 1996, 59 min, (Original mit engl UT)
Keine selbstbemitleidenden
Statements zum Thema Aids mehr. Das beweist Michael Brynntrups
Film 'Aide Mémoire', in dem er den HIV-positiven Fotografen Jürgen
Baldiga zu Wort kommen läßt: Es ist ein Diskurs über Leben und
Lust, über Krankheit und Gesundheit, es sind Überlegungen zum Umgang
mit bildern vom Leben und vom Tod. Unprätentiös erzählt und daher
umso spannender. Wüste Beschimpfungen aus dem Hof kontrapunktieren die
privaten Gespräche im Zimmer.
Michael Brynntrup hat Gespräche mit Jürgen Baldiga gesammelt und zwei
Jahre nach seinem Tod zum Film 'Aide Mémoire - ein schwules Gedächtnisprotokoll'
montiert. 'Das Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Jürgen, das Gesicht.
Jürgen hat seinen Körper verlassen, und eine eingefallene Puppe ist
... Ach, Worte sagen da nichts! Das Bild (und keine Metapher) hab ich auf Video-
und Super-8 aufgenommen, aber das Bild habe ich auch noch so ganz präsent
vor Augen (die Aufnahmen habe ich mir noch nicht einmal angeschaut...mir fehlt
auch etwas der Mut!). Was ich aber sagen wollte: der tote Körper, so wie
ich ihn heute morgen gesehen habe, hat nichts mehr mit Jürgen zu tun!'
(Michael Brynntrup in seinem Tagebuch).
Einen wahren bilderrausch
entfesselt der Däne Knud Vesterskov in seinem neuesten Film 'Stolen Glimpses'.
Geschichten der Nacht, Geschichten über Geschöpfe der Nacht, eine
phantastisch-erotische Nummernrevue. Männer, die sich suchen, finden, lieben,
verlieren. Aufmerksamkeit fordern und sich präsentieren ist die Devise,
zugreifen und sich wieder trennen. Vesterskov erzählt vom ungestümen
Verlangen, von der zärtlichen Berührung, von Sehnsuchten und Ängsten:
Die 'Grande dame' präsentiert sich im Scheinwerferlicht, der knackige Jüngling
räkelt sich aufreizend im Schaumbad, das letzte Gefecht im Doppelbett findet
mit Florett und Telefonhörer statt. Eine Flut von bildern und Szenen bricht
über den Zuschauer herein: Zitate, Verfremdungen, Reales.
Als kongeniale Partner erweisen sich dabei der Autor Morti Vizki mit seinen
Texten und Knud Versterskov als Filmemacher: viele einzelne Geschichten verschmelzen
zu einer ganzen. Text und Bild kommunizieren miteinander, ohne zu kommentieren,
ohne zu illustrieren. Beide folgen ihren eigenen Spuren und gehören doch
zusammen. Das versetzt in Trance. Eine neue Dimension des assoziativ-narrativen
Films eröffnet sich hier. Ein spannendes Stück schwuler Filmgeschichte
wurde hier geschrieben: lustvoll, poetisch, ästhetisch, selbstverliebt
und selbstbewußt. Walter Hiller